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Marly den 30 Juni 1712.
Hertzallerliebe Louisse. wie leydt ist es mir, wen ich nicht
schreiben kan! Heütte ist es schon gar spät, aber ich will Euch
doch lieber einen kleinen brieff schreiben, alß keinen. Daß Ihr
mir kein glück ahn meinem geburtstag gewünscht, last Eüch daß
nicht ärgern! Ich bin so persuadirt, daß Ihr mich lieb habt, daß,
wen schon jemandt kame undt wolte mir daß contraire versichern,
würde ich es nicht glauben; den Ihr passirt bey jederman vor
tugendtsam. Nun kan man nicht recht tugendtsam sein, ohne
gerechtigkeit zu üben. Ich habe Eüch mein leben nichts zu leydt
gethan, also kont Ihr mich mitt recht nicht haßen, undt wen man
einander so nahe ist, alß wir einander sein, so ist es sicher, daß
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man einander lieb hatt undt alles guttes wünscht, wen man
einander nicht hast; dancke Eüch von hertzen vor alles guts, so Ihr
mir wünscht; seydt … I. L. der churfürst von Braunsweig undt ich
dencken in viellen sachen sehr different. Ich kan nicht leyden, daß,
waß leütte auß gutten gemühte undt willen thun, nicht mitt danck
ahngenohmen wirdt; daß kan mich jamern, daß mir die threnen in
die augen kommen. Ewere augen müst Ihr sehr schonnen, es ist
keine vexirerey mitt. Die fraw von Rotzenhaussen ist eben
vorgestern zu Paris ahnkommen, wie ich dort wegfahren wolte, habe
sie also gleich hergeführt. Da schlegt es 10, muß wider willen
enden, doch nicht, ohne Eüch zu versichern, liebe Louisse, daß ich
Eüch von hertzen lieb behalte.